Der Herr berichtete

aus den Gebieten seiner Iche. Er hatte viele Iche, Kindheits-, Erwachsenen-, Business-, Musiker-, Schreiber-, Zeichner-, Partner-, Herren-Ich und viele mehr. Denn, so sagte der Herr häufig: „Wer mit einem Ich auskommen will, muss sich ganz schön einschränken“. Mit den vielen Ichen hatte der Herr gute Unterhaltung und wunderte sich auch oft über deren Eigenständigkeiten. Jedes Ich machte für sich einen guten Job und bildete sich auf dem ich-eigenen Gebiet immer weiter aus. Der Herr hatte Glück, denn seine Iche wollten voneinander nichts wissen und konzentrierten sich auf ihre Aufgaben. Auch kannten sie keinen Neid und klagten auch nicht über Benachteiligung. Der Herr war sich nur nicht ganz sicher, für wen sie arbeiteten und ob sie überhaupt für jemanden oder etwas arbeiteten, oder nur für sich selbst. Dann allerdings wäre sein Herren-Ich nur eines unter vielen und gar nichts Besonderes.

Und wieder denken wir an die vielen hungrigen Suchmaschinen die auf tausend Wörter warten. Wir kommen diesen Erwartungen nach, produzieren mehr als 1000 Wörter, dieses Mal ohne Bild und fragen uns, ob sich der Herr da nicht etwas vor macht. Schon diese idealisierte Formulierung: „Auch kannten sie keinen Neid und klagten auch nicht über Benachteiligung.“ zeigt doch eine fortgeschrittene Werksblindheit des Herren.

Wer viele Iche hat, hat auch Streit, Mißgunst, Niedertracht, Konkurrenz, Jammern, kurz Unpäßlichkeiten jeder Art zu fürchten. Nur durch Ignoranz kann es dem Herrn gelungen sein, die Streitigkeiten seiner Iche, die auf jeden Fall da gewesen sein müssen, aus seinem Fokus der Aufmerksamkeit zu verbannen. Wohin fokussiert der Herr aber dann? Wahrscheinlich immer auf das Ich, das ihm gerade freundlich gesinnt scheint. Der Herr pflegt Illusionen, erträumt sich eine heile Welt und wird schon noch sehen, wo er damit hin kommt. Ganz subversiv versucht der Herr mit dem Postulat der vielen Iche den uns allen bekannten Identitäts-Satz zu unterlaufen oder aber zu durchkreuzen. Weiß er denn nicht, dass jeder eine Identität braucht. Ohne Identität gibt es nichts zu individualisieren und wie langweilig wäre das Leben, wenn jeder die gleiche Facebooksite hätte oder das gleiche I-Phone. Stellt euch vor, es gäbe keine individuellen Tatoos mehr oder Schuhmoden, keine individualisierten Autos und so weiter. Jedes Individuum will doch sein eigenes Design, damit es nicht identisch mit den anderen Individuen daher kommt.

So weit, dass wir alle gleich werden, soll die Identität nicht gehen. Nein, das Besondere eines Individuums soll herausgestellt werden und das nicht nur donnerstags, wenn die Müllabfuhr vorbeikommt. Wir wollen unsere Identität sichtbar machen, denn wir sind nicht mit anderen identisch, sondern mit uns selbst, also ich bin mit mir identisch. Schon schlimm, dass man das hier erst noch aufschreiben muß. Man nennt das auch Selbstähnlichkeit und es ist mehr als nur eine Ähnlichkeit. In der Identität liegt das Dasein, denn wäre das Seiende nicht mit sich identisch, dann wäre es nicht und es kommt doch darauf an, dass etwas ist, individualisiert nämlich. Jeder Mensch ist etwas Besonderes. Das habe ich neulich in einem amerikanischen Film gesehen und das hat mir gut gefallen. Den Film sollte sich der Herr auch einmal anschauen, dann würde er wissen, wie wichtig eine Identität, also ein und nur ein Ich ist.

Ich-Identität ist sehr wichtig, das sollte der Herr eigentlich wissen. „Hans-Peter Frey und Karl Haußer bezeichnen Identität als einen selbstreflexiven Prozess des Individuums. Ein Mensch stellt demnach Identität über sich her, indem er verschiedene Arten von Erfahrungen, so zum Beispiel innere, äußere, aktuelle sowie gespeicherte, über sich selber verarbeitet. „Identität entsteht aus situativer Erfahrung, welche übersituativ verarbeitet und generalisiert wird.“ (Identität, 1987, S. 21).“ zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t#Ich-Identit.C3.A4t_nach_Erikson_und_Habermas

Wenn ein Mensch Identität über sich herstellt, dann ist das auch ein erhebender Moment. Der Mensch erhebt sich über sich um seine Erfahrungen „übersituativ“ zu verarbeiten und zu generalisieren. Das Ergebnis aus dieser Aktion sind nicht etwa Glaubenssätze und Vorannahmen, sondern das Ergebnis heißt Ich-Identität. Identisch ist also, was sich über sich erhoben hat, um dann in der Verarbeitung und der Generalisierung von Erfahrungen mit sich identisch zu werden. Aus einem werden zwei und dann wieder ein identisches um wieder zwei zu werden, dann wieder eins. Das nennt man einen Prozeß, vielleicht sogar den Prozeß der Ich-Identitätsfindung. Immer einer oben, das andere unten, das ist auch wichtig.

Wenn der Herr sich einmal die Mühe machen würde, Identität über sich herzustellen, dann würde er merken, dass das so einfach nicht geht. Er würde merken, dass er dazu Hilfe braucht, einen geistigen Führer vielleicht, der ihm hilft, seine Identität über sich herzustellen. Ein geistiger Führer oder ein Yoga Lehrer könnte ihm dann auch sagen, ob er es richtig macht. Aber, der Herr wählt den einfach Weg, behauptet, viele Iche zu haben und drückt sich so vor der wichtigen Erfahrung, sich über sich zu erheben, vielleicht sogar über sich hinauszuwachsen. Vor allem kommt der Herr mit den vielen Ichen niemals zu einer „gespeicherten Erfahrung“. Wahrscheinlich speichert ja jedes seiner Iche die eigenen Erfahrungen ab und die unterscheiden sich dann von den anderen Erfahrungen. Eine Identität bleibt unmöglich und der Herr wird sich wahrscheinlich als multiple Persönlichkeit wieder finden, wenn er sich überhaupt wieder finden kann. Denn einen Menschen mit vielen Ichen kann es nicht wirklich geben, er könnte sich selbst nicht kennen und keine Sekunde wirklich da sein.

Wie sollte er sich einen Namen geben, wenn er keine Identität hat? Wie sollten wir ihn ansprechen? Gut, wir können ihn mit Herr ansprechen, aber dann, was sagen wir dann? Der Herr entzieht sich einer Ansprache, kann ohne Identität auch keine Adresse haben und keinen Meldeschein. Wählen müßte er mit vielen Stimmen und wäre eigentlich nur als Chorsänger zu gebrauchen. Vielleicht nennt er sich deshalb „der Herr“, kann keinen Namen nennen, kennt seine eigene Identität nicht, weil er sich nie über sich erhoben hat. Wir wollen doch alle über uns hinauswachsen, dadurch lernen wir und erweitern unsere Grenzen oder wachsen auch über diese Grenzen hinaus. Gut, es ist etwas schwer zu begreifen, wie jemand über sich hinauswachsen könnte, denn der jemand, der da wächst wäre ja mit sich identisch und könnte sich zum Hinauswachsen nicht verlassen, ohne seine Identität zu verlieren, die er ja durch das über sich hinauswachsen gewinnen will. Es ist zum Auswachsen. Aber eins bleibt klar, der Herr hat nicht recht!

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